Die Erinnerung bleibt

Gunhilds Angehörige und Freunde begleiteten sie in ihren letzten Wochen im Hospiz und verabschiedeten sich nach ihrem Tod bei einer Aussegnung von ihr. Ein heilsames Ritual, das bis heute trägt. Carola und Gunhild verband der Sport. Regelmäßig trafen sie sich in einer Akrobatikgruppe. Gunhild lud Carola ebenso in eine Tanzgruppe ein, die intensive Selbsterfahrungen und wertschätzende Begegnungen mit anderen ermöglichte. „Gunhild war unser Motor in der Gruppe“, berichtet Carola. „Sie hat Menschen verbunden und solange es ihr noch möglich war Sport gemacht. Wir Freundinnen machen jetzt weiter.“ Weiterhin tanzt Carola und auch die Akrobatik steht regelmäßig auf ihrer Agenda. Und Gunhild ist dabei – in Anekdoten und Erinnerungen, über die sich die Gruppen austauschen. Auch als Gunhild im Hospiz war, traf Carola sie weiter. „In dem Wissen, dass sie geht, habe ich versucht die uns noch verbleibende gemeinsame Zeit so sehr zu genießen, wie möglich. Wir haben viel gemeinsam gelacht und auch diskutiert. Die Zeit, zusammen zu sein, manchmal auch nichts zu sagen und sich nah zu sein, war für uns wichtig.“ Belanglose Ärgernisse und Alltagsfragen dagegen weniger. Carolas Kontakt auch zu Gunhilds engsten Menschen, Gespräche und die gemeinsame Zeit waren umso wichtiger – und dazu gehörte Diskussion ebenso wie die harmonischen Momente.

Aus Gunhilds Zimmer im Hospiz des Heilhauses nahmen die Mitarbeitenden während des Sterbeprozesses nach und nach die technischen Geräte heraus, die einfach an Bedeutung verloren. Einen Wecker brauchte Gunhild nicht mehr. Um das Loslassen einfacher zu machen, nahmen die Mitarbeitenden – im Gespräch mit Gunhild und mit ihrem Einverständnis – nach und nach auch Fotos und Erinnerungsstücke, die wertvoll für sie waren aus ihrem Zimmer.

Schritt für Schritt realisieren

Carola und ich, die Autorin dieses Textes, sitzen in einem kleinen Raum mit einem großen Fenster, das uns den Blick auf die winterliche Anlage des Heilhauses bietet. Über die vielen Gebäudekomplexe hinaus, sehen wir auch die einzelnen Wege, auf denen hin und wieder Personen spazieren. Menschen kommen an und gehen ihrer Wege. Es ist ein schattenloser und bewölkter Morgen. Draußen ist es kalt, doch hier drinnen warm und freundlich eingerichtet. Zwischen uns steht eine Kerze und ein kleiner roter Weihnachtsstern in einem dezenten Blumengesteck aus grünen Blättern.

Im Sommer verstarb Gunhild auf eben der Etage, auf wir nun dieses Gespräch führen. Carola hat mich hierher eingeladen, um mir von Gunhilds Aussegnung zu erzählen: „Das war so ein heilsames Erlebnis, das ich es gern in die Welt tragen und mit anderen teilen möchte.“ Die Aussegnung ist ein Abschiedsritual, dass die engste Trauergemeinschaft vor der Beerdigung durchläuft. Dabei bespricht im Heilhaus eine dafür ausgebildete spirituelle Leitung die Schritte mit den Sterbenden und den Angehörigen im Vorhinein und leitet die Aussegnung nach ihren Wünschen. „Solange die sterbenden Personen mit dem Verstand noch da sind, lassen sich für sie selbstbestimmt Entscheidungen bis über den Tod hinaus treffen.“ Carola empfindet das als eine sehr würdevolle Form für alle Beteiligten.

Der letzte Abschied

In der Nacht als Gunhild starb, war Thomas, ihr Ehemann, bei ihr. Nach einiger Zeit, als Thomas so weit war, wusch er seine Frau mit Hilfe der Mitarbeiterinnen und balsamierte sie behutsam ein. Zusammen kleideten sie Gunhild in den von ihr gewählten Kleidungsstücken und legten sie in ihr Bett. Am frühen Morgen fuhr Thomas nachhause, um die gemeinsamen Kinder über Gunhilds Tod zu informieren und die Familie und engsten Freunde anzurufen. Zurück im Hospiz, brauchten Thomas und die Kinder Zeit, mit Gunhild allein zu sein. Sie konnten aus dem Raum raus gehen und auch wieder hereinkommen, wenn sie das wollten ohne zeitlichen Druck.

Am Nachmittag dieses Tages versammelten sich dann zwanzig Gunhild nahestehende Menschen und waren bei ihr. Unter ihnen auch Carola. Die spirituelle Leiterin führte diese An- und Zugehörigen durch die gemeinsame letzte Zeit. „Es ist schwer zu verstehen, dass ein Mensch nicht mehr da ist. Deshalb ist es wichtig, zu erklären, was uns als Trauernde während eines Abschiedsrituals erwartet und durch jeden Schritt mehr zu begreifen.“ Das machte die Leiterin, bevor die Zeremonie begann.

Aufgebahrt lag Gunhild in ihrem Bett. Die spirituelle Leiterin erzählte aus Gunhilds Leben. Gunhild und ihre Angehörigen hatten im Vorfeld, das vermittelt, was die Zeremonienleiterin mit ihrer sanften Stimme nun mit ihren eigenen Worten zu Gunhilds Wesen sagte. Sie gab den anwesenden Angehörigen und Freunden Zeit und Raum, um als Gruppe oder auch allein mit Gunhild zu sein und sich von ihr zu verabschieden. Im Anschluss war der Plan, Gunhild in den Sarg umzubetten, den der Bestatter dafür mitbrachte. Doch jetzt kam und kam der Bestatter, den es dazu brauchte, nicht. Intuitiv fragte die spirituelle Leiterin in die Runde, ob so ein zeitlicher Verzug und das damit zusammenhängende Ungeplante möglicherweise etwas mit der Verstorbenen zu tun haben könnte. „Mir sowie auch den anderen fiel dazu erst einmal nichts ein. Und dann war dieser Gedanke in mir präsent: Gunhild wollte, dass die Welt mal kurz innehält, wenn sie stirbt. Und genau das ist in diesem Moment passiert. Wir alle waren da und es gab nicht anderes. Wir waren nur da. Für Gunhild.“

Als der Bestatter dann kam, gingen Gunhilds Ehemann Thomas, der Bestatter und eine Hospiz-Mitarbeiterin in den Raum. Für die Umbettung in den Sarg nahmen sie sich Zeit. Der Bestatter und die Mitarbeiterin hoben den Leichnam behutsam in den Sarg und betteten ihn dort. Anschließend öffnete sich der Raum wieder und alle, die wollten, legten für Gunhild etwas bei: Fotos, kleine Steine in Herzform, die sie besonders mochte, und Geschenke, die eine ganz persönliche Geschichte hatten. Diese Objekte sollten sie begleiten. Dann schloss der Bestatter den Sarg. Auf diesen stellte die spirituelle Leiterin eine große Wachskerze. Eine Kerze brannte ebenfalls in Gunhilds Zimmer, als sie verstarb. Und erst als diese Flamme erlosch, wurde das Zimmer wieder aufgeräumt. So wie die Trauergemeinschaft bei der Aussegnung unerwartet innehielt, gab die Kerze eine unbestimmte Zeitspanne vor, die es abzuwarten galt, bevor es weitergehen konnte und der Raum neu zur Verfügung stand.

Begleitet von Musik, Stimmen und Worten

Wie bei jeder Aussegnung dieses Hospizes war ein Musiker anwesend, der das Ritual mit einigen Stücken begleitete. Mit seiner Gitarre stimmte er das erste Lied an, während sich die Anwesenden um den Sarg versammelten. Sie standen jetzt gemeinsam vor dem Raum in dem sie Gunhild das letzte Mal sahen. Es war an der Zeit Gunhild nach unten zum Bestattungsauto zu begleiten. Thomas nahm die Kerze vom Sarg in seine Hände, trug sie und achtete darauf, dass sie nicht erlosch. Mit dem Fahrstuhl wurde der Sarg hinuntergefahren und die Freunde und Familienangehörigen liefen parallel die zwei Stockwerke die Treppe hinab und kamen zusammen mit dem Sarg im Erdgeschoss an. Im Treppenhaus erklangen die Teile der Strophen eines Liedes: ”Geburt, das Kommen aus der Liebe. Tod, das Zurückgehen in die Liebe.” Alle, die wollten und konnten, sangen den Liedtext wieder und wieder mit. Es war ein eingängiges Lied, das von den Stimmen der Gruppe getragen wurde. Die Melodie, die der Musiker spielte, stützte die Trauernden. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Heilhauses, blieben stehen, als sie den Trauerzug sahen, standen auf, wenn sie saßen und unterbrachen für einen Moment ihre Tätigkeiten. „Und da hielt die Zeit ein weiteres Mal an“, sagt Carola zu diesem Moment. „Alle, die anwesend waren, würdigten und nahmen wahr, dass gerade jemand geht.“

Füreinander da sein

Während der gesamten Aussegnung regnete es in Strömen, doch als die Gemeinschaft hinaustrat, um den Sarg bis zum Wagen zu begleiten, brachen die Wolken plötzlich auf und die Sonne schien auf den Trauerzug. Sie hüllte das Auto, den Sarg, die Freunde und die Familie in ihr Licht. „Nachdem der Bestatter den Sarg ins Auto geschoben hatte, schloss er die Heckklappe. In einem Rutsch kam das angestaute Wasser herunter und ergoss sich auf dem Boden. „Mir kamen die Tränen“, erinnert sich Carola. In diesem Moment stand die spirituelle Leiterin ihr bei. Sie umarmte Carola und drückte sie fest. „War es gerade für jemanden schwierig, dann nahm jemand anders aus der Gruppe das wahr und konnte demjenigen beistehen. Wir fingen uns gegenseitig auf.“

Carola fühlte sich als Teil der Trauergemeinschaft nicht allein. Sie konnte sich dadurch darauf konzentrieren, was mit ihr und den anderen in diesem Moment geschah. Sie waren eine Gemeinschaft der Trauer um Gunhild: „Und wenn es eben nur eine Geste, ein Blick oder eine Berührung ist: Zu zeigen, ich bin für dich da, ist wichtig.“ Gemeinsam bliesen sie die Kerze aus. Die Trauergemeinschaft sang ein letztes Lied, als das Bestattungsauto losfuhr, und sang, bis es nicht mehr zu sehen war. Gunhilds Begleiterinnen und Begleiter verabschiedeten sich voneinander. Eine Woche darauf sahen sie sich bei der Beerdigung wieder.

Über Umwege führ das Bestattungsauto zum Bestattungsinstitut, wo der Sarg mit dem Leichnam bis zur Beerdigung aufbewahrt wurde. Der Bestatter lenkte es zum Hof von Gunhild, Thomas und ihren gemeinsamen Kindern. Langsam passierten sie so die angrenzenden Straßen, Felder und die Praxis, in der Gunhild als Physiotherapeutin arbeitete. Sie war noch einmal zuhause.

Erinnerungen und neue Gestalten

Im letzten Sommer fanden die Aussegnung und der Abschied von Gunhild statt. Carola erinnert sich noch oft daran zurück: „Du weißt, dass du dich verabschieden musst. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn ich jetzt an die Aussegnung zurückdenke, dann spüre ich, dass Vieles daran wirklich schön war; auch wenn es sich merkwürdig anfühlt, dieses Wort zu verwenden: Es war schön, weil es so heilsam war und bis jetzt trägt.“

Die Aussegnung war einer von vielen Schritten, um Gunhilds Tod zu betrauern. Die Trauer begann schon davor und begleitet Carola fortwährend in ihrem Alltag. Carola denkt an Gunhild, wenn die Sonne so plötzlich hinter den Wolken hervorkommt, wie bei der Aussegnung. Dann empfindet sie das als Gruß von Gunhild. „Das ist nichts, was sich erklären lässt. Ein Gruß braucht keine Worte.“

Text und Illustration: Nuria Rojas Castañeda
Aus: StadtZeit Kassel Magazin, Nr. 119, März/April/Mai 2024
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